Förderbezogene Diagnostik in heterogenen Klassen

Videovignetten für die Lehrkräftebildung für berufliche Schulen

Autor:innen: Andrea Burda-Zoyke, Jürgen Seifried, Philipp Eichentopf, Teresa Giek

Inklusiver Unterricht mit heterogenen Lerngruppen erfordert eine differenzierte und individualisierte Herangehensweise, die auf die individuellen Bedürfnisse und Potenziale der Schüler:innen eingeht. Eine förderbezogene Diagnostik zielt darauf ab, die individuellen Stärken und Schwächen der Lernenden zu erfassen und angemessene Fördermaßnahmen bzw. förderliche Lehr-Lernsettings zu entwickeln. Dies ist für (angehende) Lehrpersonen eine herausfordernde Aufgabe. Daher wurden im Projekt DIA-LIBS Videovignetten mit Begleitmaterialen entwickelt, die (angehenden) Lehrkräften an beruflichen Schulen die Entwicklung von unterrichtsnahen Kompetenzen ermöglichen. Die Vignetten decken die Breite der Bildungsgänge beruflicher Schulen unter besonderer Berücksichtigung des kaufmännischen Unterrichts sowie zentrale Heterogenitätsmerkmale der Schüler:innen ab.

Matrix zu Verortung der Videovignetten nach Heterogenitätsdimension und Schulart wie im Text beschrieben
Abbildung: Spektrum der Videovignetten (eigene Darstellung)

Die Arbeit mit den Vignetten fordert (angehende) Lehrkräfte auf, sich umfassend mit den Möglichkeiten der förderbezogenen Diagnostik zur individuellen Förderung im Kontext inklusiver beruflicher Bildung zu beschäftigen. Dabei ist zu beachten, dass die Vignetten keine Good Practice-Beispiele zur gelungenen förderbezogenen Diagnostik zeigen. Vielmehr regen sie dazu an, über die Notwendigkeit sowie Möglichkeiten förderbezogener Diagnostik nachzudenken, d. h. selbst diesbezügliche Handlungsalternativen zu entwickeln und begründet zu entscheiden.

Wir danken allen Lehrkräften, Fachexpert:innen und weiteren Beteiligten für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Entwicklung der Materialien!

Hintergrund und Zielsetzung der Videovignetten zur förderbezogenen Diagnostik in heterogenen Klassen beruflicher Schulen

Was ist inklusive berufliche Bildung und warum ist förderbezogene Diagnostik hierfür wichtig?

Inklusive berufliche Bildung verfolgt das Ziel, grundsätzlich alle Schüler:innen gemeinsam in Klassen des Regelsystems der beruflichen Schulen zu unterrichten, wobei gefährdete und marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderungen und Benachteiligungen besonders zu berücksichtigen und zu fördern sind. Dies kann durch individuelle Förderung und adaptiven Unterricht gelingen, welche eine geeignete Diagnostik seitens der Lehrkräfte erfordern.

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Unter inklusiver beruflicher Bildung verstehen wir, dass grundsätzlich alle Schüler:innen gemeinsam in Klassen des Regelsystems der beruflichen Schulen lernen und ihre Kompetenzen weiterentwickeln, wobei gefährdete und marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderungen und Benachteiligungen besonders zu berücksichtigen und zu fördern sind (UN-CRPD 2008, DUK 2014). Die ausgeprägte Heterogenität der Lernenden in den beruflichen Schulen erfordert eine individuelle Förderung und einen adaptiven Unterricht, um den Bedürfnissen aller Lernenden (mit und ohne besonderen Förderbedarf) gerecht zu werden (Beck et al. 2008; Berger 2018; Euler & Severing 2014). Eine (bedarfsgerechte) förderbezogene Diagnostik im Unterrichtsalltag ist dafür unverzichtbar, um alle Lernenden als Individuen mit unterschiedlichen Hintergründen und Potenzialen anzusprechen (Frohn et al. 2020; Hardy et al. 2011; Schildkamp et al. 2020; Vogt & Rogalla 2009). Dabei verstehen wir Diagnostik als eine Kernaufgabe von Lehrkräften und als zentrales Element ihrer professionellen Kompetenz (KMK 2014; Trittel et al. 2014).

Literatur

  • Deutsche UNESCO-Kommission (DUK) (2014). Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. http://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bildung/2014_Leitlinien_inklusive_Bildung.pdf
  • Beck, E., Baer, M., Guldimann, T., Bischoff, S., Brühwiler, C., Müller, P., Niedermann, R., Rogalla, M., & Vogt, F. (2008). Adaptive Lehrkompetenz. Analyse und Struktur, Veränderbarkeit und Wirkung handlungssteuernden Lehrerwissens. Waxmann.
  • Berger-Madjdpour, M. (2018). Aktuelle Befunde zur Heterogenität in Berufsfachschulklassen. Transfer, Berufsbildung in Forschung und Praxis (2). SGAB, Schweizerische Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung.
  • Euler, D., & Severing, E. (2014). Inklusion in der beruflichen Bildung. Daten, Fakten, offene Fragen. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_Inklusion_in_der_beruflichen_Bildung_Daten_Fakten_offene_Fragen.pdf
  • Frohn, J., Schmitz, L., & Pant, H. A. (2020). Lehrkräfteprofessionalisierung: adaptive Lehrkompetenz für inklusiven Unterricht. In E. Brodesser, J. Frohn, N. Welskop, A. Liebsch, V. Moser & D. Pech (Hrsg.), Inklusionsorientierte Lehr-Lern-Bausteine für die Hochschullehre. Ein Konzept zur Professionalisierung zukünftiger Lehrkräfte (S. 30-36). Julius Klinkhardt.
  • Hardy, I., Hertel, S., Kunter, M., Klieme, E., Warwas, J, Büttner, G., & Lühken, A. (2011). Adaptive Lerngelegenheiten in der Grundschule. Merkmale methodisch-didaktische Schwerpunktsetzungen und erforderliche Lehrerkompetenzen. Zeitschrift für Pädagogik, 57 (6), 819-833.
  • KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2014). Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004 i.d.F. vom 12.06.2014. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards-Lehrerbildung-Bildungswissenschaften.pdf
  • Schildkamp, K, van der Kleij, F., Heitink M., Kippers W., & Veldkamp, B. (2020). Formative assessment: A systematic review of critical teacher prerequisites for classroom practice. International Journal of Educational Research.
  • Trittel, M., Gerich, M., & Schmitz, B. (2014). Training prospective teachers in educational diagnostics. In S. Krolak-Schwert, S. Glock & M. Böhmer (Ed.), Teachers’ professional development (pp. 63-78). SensePublishers.
  • Vogt, F., & Rogalla, M. (2009). Developing adaptive teaching competency through coaching. Teaching and teacher education, 25(8), 1051-1060.

Was verstehen wir unter förderbezogener Diagnostik?

Förderbezogene Diagnostik ist eine Form der unterrichtsnahen, alltäglichen Diagnostik insbesondere von Lehrkräften, die dazu dient, das individuelle Lernen aller Lernenden in heterogenen Klassen bestmöglich zu unterstützen.

Graphische Darstellung des heuristischen Modells förderbezogener Diagnostik wie im Text beschrieben
Abbildung: Förderbezogene Diagnostik (eigene Darstellung)
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Unser Verständnis von förderbezogener Diagnostik greift auf Grundlagen der pädagogischen Diagnostik (Ingenkamp & Lissmann 2008) zurück und berücksichtigt zudem Ansätze inklusiver Diagnostik (u.a. Simon & Simon 2014; Schäfer & Rittmeyer 2015 2021) bzw. didaktischer Diagnostik im inklusiven Unterricht (Prengel, 2016). Förderbezogene Diagnostik verorten wir als integralen Bestanteil des professionellen Handelns von Regellehrkräften, der zu großen Teilen im alltäglichen inklusiven Unterricht sowie in unterrichtsnahen Situationen stattfindet (Prengel 2016; s.a. Jansen & Meyer 2015). Sie drückt sich in einer besonderen Aufmerksamkeit der Lehrkraft im inklusiven Unterricht aus, die auf ihrer fachwissenschaftlichen, pädagogischen und fachdidaktischen Expertise basiert (Prengel 2016). Förderbezogene Diagnostik richtet sich an alle Lernenden und reicht daher über eine Förderdiagnostik hinaus, bei der in erster Linie Lernende mit Behinderungen, sonderpädagogischem Förderbedarf o.ä. Benachteiligungen, angesprochen werden. (Siehe zur differenzierten Abgrenzung zwischen „traditioneller Diagnostik“, „Förderdiagnostik“ und „inklusiver Diagnostik“ Simon & Simon (2014)).

Ziel der förderbezogenen Diagnostik ist es, das individuelle Lernen aller einzelnen Lernenden in einer heterogenen Lerngruppe (z. B. im Rahmen individueller Förderung und/oder adaptiven Lernens) bestmöglich zu unterstützen. Es geht also darum, den inklusiven Unterricht so zu gestalten, dass dieser angemessene individuelle Förder- und Entwicklungsangebote enthält. Genauso unterstützt sie Lernende, ihren Lernstand adäquat einzuschätzen, darauf bezogen Ziele zu formulieren und geeignete Lernschritte zu planen. Diesbezügliche Planungen und Reflexionen erfordern eine geeignete Informationsgrundlage, welche die förderbezogene Diagnostik bereitstellen soll (Prengel 2016; Simon & Simon 2014). Damit umfasst die förderbezogene Diagnostik in Anlehnung an die pädagogische Diagnostik „alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren“ (Ingenkamp & Lissmann 2005). Dabei richtet die förderbezogene Diagnostik ein besonderes Augenmerk auf die Lernvoraussetzungen und -prozesse, womit eine Nähe zum formativen Assessment erkennbar wird. Dies unterscheidet sie vom summativen Assessment, welches der abschließenden Bilanzierung von Lernergebnissen nach einem Lernprozess dient (z. B. am Ende des besuchten Bildungsganges oder einer Unterrichtsreihe) (Prengel 2016).

Neben dem Erkennen und Verstehen von Lernschwierigkeiten geht es auch um Potenziale bzw. Ressourcen der Lernenden, die es zu mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung stärken gilt (Bylinski 2016). Diesbezüglich können personale (z. B. Persönlichkeitsmerkmale wie die psychische Konstitution sowie formale schulische Qualifikationen oder ein etwaiger Migrationshintergrund), soziale (z. B. Beziehungsstruktur der Lernenden und Vernetzung im sozialen Umfeld) und organisationale Ressourcen (institutionelle Rahmenbedingungen wie gesetzliche Bestimmungen, Entscheidungen von betrieblichen Personalverantwortlichen) unterschieden werden (Bylinski 2016). Im Sinne der inklusiven Leitidee geht es hierbei auch um Anerkennung von Vielfalt und Nicht-Diskriminierung (Simon & Simon 2014). Zudem soll mit dem Erkennen von Ressourcen insbesondere durch die Lernenden selbst zur Stärkung der Resilienz (z. B. Entwicklung von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und positiven Selbstkonzepten) der Lernenden beigetragen werden (Bylinski 2016).

Die Analyse der Entstehung von Lernschwierigkeiten und -potenzialen folgt einem interaktionistischen Verständnis, welches die Person der Lernenden (z. B. kognitive und motivationale Voraussetzungen), ihre Umwelt (z. B. privates und soziales, aber auch schulisches und betriebliches Umfeld) sowie das Zusammenspiel derselben näher betrachtet (Simon & Simon 2014).

Hinsichtlich des Vorgehens bedient sich die förderbezogene Diagnostik des breiten Spektrums der Grundmethoden der Diagnostik:

  • Beobachten (z. B. mittels strukturiertem oder offenem Beobachtungsbogen im Unterricht bzw. in ausgewählten Unterrichtssituationen),
  • Gespräche bzw. Befragung (z. B. mittels strukturierten, halb-strukturierten Fragebogen oder offen),
  • Testen (z. B. mittels Tests, Selbsteinschätzungsbögen u.ä.) (Hesse & Latzko 2011).

Dabei werden qualitative und quantitative diagnostischen Methoden, Verfahren und Instrumente flexibel und individualisiert eingesetzt, um in besonderer Weise die Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Lernenden unter Berücksichtigung der situativen Bedingungen zu ergründen (Schäfer & Rittmeier 2015, 2021; Simon & Simon 2014).

Vor dem Hintergrund des umfassenden Anspruchs einer förderbezogenen Diagnostik sowie mit Blick auf mögliche Erkenntnisgrenzen sind ko-konstruktive, dialogische Methoden wünschenswert. Diese ermöglichen die Berücksichtigung der Perspektiven verschiedener Personen und Professionsgruppen und deren spezifische Hintergründe (Regellehrpersonen, sonder- und sozialpädagogische sowie psychologische Fachkräfte, betriebliches Ausbildungspersonal sowie die Lernenden selbst). Es geht auch um die Überwindung der Betrachtung der Lernenden als Objekte der Diagnostik (Prengel 2016; Schäfer & Rittmeier 2015, 2021). Diesbezüglich bieten sich beispielsweise Fallbesprechungen in multiprofessionellen Teams sowie vielfältige Gespräche mit Lernenden (z. B. zur Aufnahme in einen Bildungsgang, im Rahmen der Förderplanung aber auch informell im Unterricht) ebenso an wie das ‘Diagnostische Mosaik’ (Boban & Hinz 2016).

Hinsichtlich des Gegenstandes der förderbezogenen Diagnostik ist die für inklusiven Unterricht übliche Unterscheidung zwischen obligatorischem Curriculum (für alle Lernenden gültige Standards, die aber in aufeinander aufbauende Niveaustufen zu differenzieren sind, welche von den Lernenden zu unterschiedlichen Zeitpunkten relevant und erreichbar erscheinen können) und fakultativem Curriculum (mit Freiräumen für individuelle Themen und Interessen, z. B. in selbst gewählten Präsentationsthemen und Prüfungskomponenten) von Relevanz. Beide Bereiche sind im Rahmen der förderbezogenen Diagnostik zu beachten (Prengel 2016). Im Bereich des obligatorischen Curriculums können sich beispielsweise Kompetenzraster und Kann-Listen anbieten, im Bereich des fakultativen Curriculums beispielsweise Lerntagebücher, Portfolios sowie vielfältige Handlungsprodukte und Dokumentationen der Lernenden (Prengel 2016).

Literatur

  • Boban, I., & Hinz, A. (2016). Dialogisch-systemische Diagnostik – eine Möglichkeit in inklusiven Kontexten. In B. Amrhein (Hrsg.), Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte (S. 64-78). Julius Klinkhardt.
  • Prengel, A. (2016). Didaktische Diagnostik als Element alltäglicher Lehrerarbeit – „Formatives Assessment“ im inklusiven Unterricht. In B. Amrhein (Hrsg.), Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte (S. 49-63). Julius Klinkhardt.
  • Schäfer, H., & Rittmeyer, C. (2021). Inklusive Diagnostik. In H. Schäfer & C. Rittmeyer (Hrsg.), Handbuch Inklusive Diagnostik. 2. Auflage (S. 106-137). Beltz.
  • Schäfer, H., & Rittmeyer, C. (2015). Inklusive Diagnostik. Pädagogik (2), 38-41.
  • Simon, J., & Simon, T. (2014). Inklusive Diagnostik – Wesenszüge und Abgrenzung von traditionellen „Grundkonzepten“ diagnostischer Praxis. Eine Diskussionsgrundlage. Zeitschrift für Inklusion (4). https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/194

Welche Kompetenzen benötigen Lehrkräfte für eine förderbezogenen Diagnostik und wie können diese mit Videovignetten gefördert werden?

Für die förderbezogene Diagnostik braucht es eine professionelle Wahrnehmung im Unterricht, die u. a. auf diagnostischem Wissen bzw. diagnostischen Kompetenzen sowie inklusionsbezogenem Wissen und Überzeugungen basiert. Diese Fähigkeiten können im Zuge der Auseinandersetzung mit den Videovignetten gefördert werden, denn Videovignetten bieten mit Blick auf Lernen durch Reflexion und Analyse reichhaltige Anknüpfungspunkte (Erfassen der Komplexität von Realität, Wissen erweitern, Wissen flexibler machen, Theorie und Praxis verbinden, Fachsprache aufbauen und Perspektivwechsel durchführen [Krammer & Reusser 2005]). Daher werden im Projekt DIA-LIBS Videovignetten mit Begleitmaterialien entwickelt, die dazu geeignet sind, das professionelle Wahrnehmen und Handeln in Bezug auf die förderbezogene Diagnostik in inklusiven beruflichen Klassen zu trainieren.

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Ein umfassendes, unterrichtsnahes Verständnis von Diagnostik richtet sich auf ein breites Spektrum von unterschiedlichen Aktivitäten von Lehrkräften (Aufschnaiter et al. 2015). Insbesondere notwendig ist eine professionelle Wahrnehmung, um unterschiedliche Aspekte des Unterrichtsgeschehens bzw. der Interaktionen im Klassenzimmer erkennen und interpretieren zu können (Sherin & van Es 2009). Auf dieser Basis sind dann Handlungsalternativen zu explorieren und eine begründete Entscheidung zu treffen (Barth 2017). Hierfür benötigen Lehrkräfte diagnostisches Wissen bzw. diagnostische Kompetenzen, die zentrale Bestandteile ihres fachdidaktischen (pedagogical content knowledge) sowie pädagogisch-psychologischen Wissens (pedagogical knowledge) (Shulman 1986) darstellen. Zudem spielen inklusionsbezogenes Professionswissen und Überzeugungen von Lehrkräften diesbezüglich eine wichtige Rolle.

Entsprechende Fähigkeiten lassen sich entwickeln. Kersting et al. (2012) beispielsweise zeigen, dass die professionelle Wahrnehmung im Zusammenhang mit dem Lernerfolg von Lernenden steht. Stürmer et al. (2013) arbeiten heraus, dass unerfahrene Lehrkräfte ihre Fertigkeiten der professionellen Wahrnehmung durch Trainings bzw. begleitende videounterstützende Maßnahmen verbessern können. Mit Videovignetten lassen sich authentische und realitätsnahe Situationen darstellen, ohne die gesamte Komplexität der jeweiligen Situation zu übernehmen (Lindmeier 2013). Trotz dieser Komplexitätsreduktion werden Videovignetten i. d. R. als realitätsnah und die jeweilige Lehr-Lern-Situation angemessen abbildend wahrgenommen (Miller & Zhou 2007). Zudem können sie beliebig oft aus verschiedenen Perspektiven analysiert werden (Pauli & Reusser 2006). Ergebnisse zu den Effekten von Videovignetten zeigen, dass die Auseinandersetzung mit den Unterrichtssituationen bei gegebener Authentizität die motivierte Auseinandersetzung mit den Materialien, das Eintauchen in die gezeigte Unterrichtssituation sowie das Nachdenken über den eigenen Unterricht positiv beeinflussen. Videovignetten werden in der Lehrkräftebildung erfolgreich in verschiedenen Bereichen eingesetzt, beispielsweise in der Fachdidaktik und der beruflichen Bildung (z. B. Seifried & Wuttke 2017), zu Fragen der Auseinandersetzung mit Heterogenität (z. B. Koschel & Weyland 2020) oder mit Blick auf die Förderung diagnostischer Kompetenzen (z. B. Enenkiel et al. 2022).

Vor diesem Hintergrund werden im Projekt DIA-LIBS Videovignetten entwickelt, die zur Förderung von Kompetenzen von (angehenden) Lehrkräften im Bereich professioneller Wahrnehmung im Unterricht in Bezug auf die Notwendigkeit und Ausgestaltung von förderbezogener Diagnostik dienen. Die (angehenden) Lehrkräfte sollen lernen, die in den Videos dargestellten Unterrichtssituationen theoretisch fundiert zu analysieren und zu beurteilen, fachlich stimmige und situativ angemessene Handlungsalternativen zu erarbeiten sowie diese kritisch zu reflektieren, um Schlussfolgerungen für das eigene pädagogische Handeln zu ziehen. Konkret sollen die Videovignetten dazu anregen, über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten förderbezogener Diagnostik nachzudenken und diesbezügliche Handlungsalternativen zu entwickeln. Sie zeigen keine abgeschlossenen Good Practice-Beispiele, sondern wollen Impulse für die vertiefte Auseinandersetzung mit entsprechenden Fragestellungen bieten.

Literatur

  • Aufschnaiter, C. von, Cappell, J., Dübbelde, G., Ennemoser, M., Mayer, J., Stiensmeier-Pelster, J., Sträßer, R., & Wolgast, A. (2015). Diagnostische Kompetenz – Theoretische Überlegungen zu einem zentralen Konstrukt der Lehrerbildung. Zeitschrift für Pädagogik 61(5), 738-758.
  • Barth, V. L. (2017). Professionelle Wahrnehmung von Störungen im Unterricht. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16371-6
  • Enenkiel, P., Bartel, M. E., Walz, M., & Roth, J. (2022). Diagnostische Fähigkeiten mit der videobasierten Lernumgebung ViviAn fördern. Journal für Mathematik-Didaktik, 43(1), 67-99.
  • Kersting, N. B., Givvin, K. B., Thompson, B. J., Santagata, R., & Stigler, J. W. (2012). Measuring Usable Knowledge: Teachers’ Analyses of Mathematics Classroom Videos Predict Teaching Quality and Student Learning. American Educational Research Journal, 49(3), 568-589. https://doi.org/10.3102/0002831212437853
  • Koschel, W., & Weyland, U. (2020). Seminarkonzept zur videogestützten Lehre im beruflichen Lehramtsstudium unter dem Analysefokus „Umgang mit Heterogenität“. Herausforderung Lehrer*innenbildung – Zeitschrift Zur Konzeption, Gestaltung Und Diskussion, 3(1), 283–301. https://doi.org/10.4119/hlz-2556
  • Krammer, K. & Reusser, K. (2005). Unterrichtsvideos als Medium der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. Beiträge zur Lehrerbildung, 23(1), 35–50. https://doi.org/10.25656/01:13561
  • Lindmeier, A. (2013). Video-vignettenbasierte standardisierte Erhebung von Lehrerkognitionen. In U. Riegel & K. Macha (Hrsg.), Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken (S. 45-62). Waxmann.
  • Miller, K. F., & Zhou, X. (2007). Learning from classroom video: What makes it compelling and what makes it hard. In R. Goldman, R. Pea, B. Barron & S. Derry (Eds.), Video research in the learning sciences (pp. 321-334). Erlbaum.
  • Pauli, C., & Reusser, K. (2006). Von international vergleichenden Video-Surveys zur videobasierten Unterrichtsforschung und -entwicklung. Zeitschrift für Pädagogik, 52(6), 774-797.
  • Seifried, J., & Wuttke, E. (2017). Der Einsatz von Videovignetten in der wirtschaftspädagogischen Forschung: Messung und Förderung von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Kompetenzen angehender Lehrpersonen. In C. Gräsel & K. Trempler (Hrsg.), Entwicklung von Professionalität pädagogischen Personals. Interdisziplinäre Betrachtungen, Befunde und Perspektiven (S. 303-322). Springer.
  • Sherin, M., & Van Es, E. A. (2009). Effects of video club participation on teachers‘ professional vision. Journal of teacher education, 60(1), 20-37.
  • Shulman, L. S. (1986). Those who understand: Knowledge growth in teaching. Educational Researcher, 15(2), 4-14.
  • Stürmer, K., Seidel, T., & Schäfer, S. (2013). Changes in professional vision in the context of practice: Preservice teachers’ professional vision changes following practical experience: A video-based approach in university-based teacher education. Gruppendynamik und Organisationsberatung, 44, 339-355.

Welche Heterogenitätsdimensionen erweisen sich in beruflichen Schulen als besonders herausfordernd?

Die Heterogenität der Lernenden stellt Lehrkräfte an beruflichen Schulen vor besondere Herausforderungen. Dabei geht es nicht nur um diverse Lernschwierigkeiten, sondern auch um Lernpotenziale und Stärken der Lernenden. In den beruflichen Schulen stehen insbesondere Aspekte der kognitiven Leistungsfähigkeit (Denken und Lernstrategien), der Sprache (Fach-/Berufs-/Bildungssprache und Deutsch als Zweitsprache) sowie des Verhaltens von Lernenden (Emotionen und soziales Handeln) im Blickpunkt. Schwierigkeiten und Potenziale können sowohl in der Person der Lernenden selbst (z. B. persönliche Dispositionen und Erfahrungen) als auch in ihrer Umwelt (z. B. Klasse, Schule, Familie, Ausbildungsbetrieb) sowie im Zusammenspiel zwischen Person und Umwelt begründet liegen (WHO 2001).

Grafische Darstellung der drei Heterogenitätsdimensionen Kognition, Sprache und Verhalten in drei, teilweise überlappenden Kreisen
Abbildung: Heterogenitätsdimensionen (eigene Darstellung)

Im Folgenden beschreiben wir diese drei von uns schwerpunktmäßig in den Blick genommenen Heterogenitätsdimensionen jeweils isoliert. Es ist uns bewusst, dass in der Praxis Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen den drei Heterogenitätsdimensionen bestehen. Vertiefende Informationen zu einzelnen Heterogenitätsmerkmalen bzw. besonderen Ausgangslagen (z. B. Verhaltensauffälligkeiten, ADHS, Autismus, Lese-Rechtschreibschwäche) und deren Diagnostik stellen wir im Bereich der Infotexte bereit.

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Kognition: Unter dem Schwerpunkt Kognition fassen wir die kognitiven Lern- und Leistungsfähigkeiten von Lernenden. Diese können sich auf vielfältige kognitive Aspekte wie z. B. (aufgabenbezogenes) Vorwissen und Präkonzepte, räumliche Vorstellungskraft, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Problemlösungsfähigkeiten und Lernstrategien beziehen.

Sprache: Zum Schwerpunkt Sprache zählen die vielfältigen sprachlichen Kompetenzen und Sprachhandlungen aller Lernenden (z. B. schriftlich, mündlich, nonverbal, bildlich, symbolisch) im berufsbezogenen Fachunterricht.  Neben der Bildungssprache steht hier die Fach- bzw. Berufssprache, die für das berufsbezogene Lernen und Handeln bedeutsam ist, im Vordergrund. Flankierend werden Herausforderungen von Lernenden mit Migrationshintergrund, für die Deutsch (mindestens) eine Zweitsprache darstellt, thematisiert.

Verhalten: Zum Schwerpunkt Verhalten gehören heterogene Formen des psycho-sozialen Verhaltens und Wahrnehmens der Lernenden (z. B. lernrelevante Motivation, Aufmerksamkeit, Schulabsentismus, soziale Problemlagen, Ängste und Depressionen, psychische Störungen, Autismus, ADHS).

Literatur

WHO (2001). International Classification of Functioning, Disability, and Health. https://www.who.int/standards/classifications/international-classification-of-functioning-disability-and-health

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